Buchcover: "Inverno" von Cynthia Zarin

Buch der Woche

"Inverno" von Cynthia Zarin

Stand: 17.05.2024, 13:48 Uhr

An einem eisigen Abend steht eine Frau im Central Park von New York. Warm verpackt in einen Lammfellmantel, einer Fuchsfellmütze und dicken Handschuhe.

Die Frau heißt Caroline und es ist bitterkalt. Wenn sie die Geländer im Park berühren würde, vermutet Caroline, würde ihre Hand festfrieren. Darum hat sie das Handy auf Vibration gestellt und in ihren Handschuh gesteckt. Sie wartet auf einen Anruf des Mannes, den sie seit Jahrzehnten liebt, seit frühester Jugend.

Von dem Moment an als sie eines Tages zufällig in den Waschraum ihrer Highschool kam und sah, wie sich Alastair die Unterarme kühlte. Jene Unterarme, die er am Abend zuvor mit einem Taschenmesser aufgeritzt hatte. Aus Verzweiflung, aus Angst. Und an eben der Stelle im Central Park, an der Jahrzehnte später Caroline auf seinen Anruf wartet.

Die Liebe zwischen Alastair und Caroline war und ist groß. Sie ist auch unmöglich, zerstörerisch, fatal. "Alastair war nicht zu retten“, schreibt Cynthia Zarian. Caroline "hielt es mit niemandem lange aus, der ihr nicht das Herz brach". Und: "Grenzenlos waren ihre Methoden, einander unglücklich zu machen." Das ist der Handlungsrahmen, das sind die Fakten. Aber die Fakten, sie sagen wenig über diese Menschen, über ihre Verletzungen, über ihre Liebe, über ihre Leidenschaften. Viel zu wenig.

Denn "die Wahrheit will nicht festgehalten werden", so Zarin, "wie ein Drache oder eine Schlange". Dann windet sich die Wahrheit und entkommt. Man muss sich vorsichtig nähern, tastend. Und genau das tut Cynthia Zarin, die sich in den USA als Dichterin einen Namen gemacht hat, in ihrem ersten, zauberisch schönen, schmerzhaften Roman.

Ausgehend von jener Szene im Central Park lässt Zarin Carolines Gedanken und Erinnerungen und Assoziationen in alle Richtungen wuchern. Sie beschreibt Landschaften und Wetter, es geht viel um Kunst und Kino und Lieder, um die Häuser und Wohnungen, in denen Alastair und Caroline einst lebten oder sich trafen.

Es geht darum, wie man früher mithilfe von Münztelefonen in Kontakt mit andern Menschen blieb. Und es geht um Märchen. Hans Christian Andersens: "Die Schneekönigin" ist vielleicht der Schlüssel zu diesem ergreifenden Buch. Auch dort hat jemand einen Keil im Herzen, wie Caroline. Nicht aus Eisen allerdings, sondern aus Eis!

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Cynthia Zarin: Inverno
Aus dem amerikanischen Englisch von Esther Kinsky
Suhrkamp Verlag, 2024
192 Seiten, 22 Euro