"Barrierefreiheit? Da ist Deutschland ein Entwicklungsland"

Stand: 05.05.2023, 12:12 Uhr

Gramoz Krasniqi sitzt im Rollstuhl - und rappt über ein Leben voller Hindernisse. Mit Humor und Angriffslust beweist er sich in einer Szene, in der "behindert" oft als Schimpfwort gilt.

Gramoz Krasniqi ist als Rapper unter dem Namen Rolling G bekannt. Zum Internationalen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung hat der 26-jährige Düsseldorfer mit dem Kölner Rapper Eko Fresh den Song "Neue Wege" veröffentlicht.

WDR: Herr Krasniqi, in Ihrem Song "Neue Wege" thematisieren Sie die Schwierigkeiten und Hindernisse, auf die Sie als Rollstuhlfahrer immer wieder stoßen: Treppen, Barrieren, fehlende Rampen. Wie kam es dazu?

Rolling G und Eko Fresh

Rolling G und Eko Fresh

Gramoz Krasniqi: Ich bin von Geburt an körperlich beeinträchtigt, und da fallen mir die Barrieren im Alltag natürlich aus erster Hand auf, und zwar ständig und überall. Das macht einen nach einer gewissen Zeit einfach mürbe und müde. In Sachen Barrierefreiheit ist Deutschland einfach ein Entwicklungsland. Irgendwann habe ich mir gesagt: Es reicht, ich muss etwas unternehmen. Und dann hat sich die Gelegenheit mit dem Song ergeben, für den die "Aktion Mensch" über eine Agentur an mich herangetreten ist.

WDR: Sie beklagen die Zustände in Deutschland. In welchen Ländern läuft das besser?

Krasniqi: Die skandinavischen Länder sind da deutlich weiter, und auch die Niederlande. Ich hatte selbst einmal die Situation, dass ich mit dem Zug nach Amsterdam gefahren bin, wo man mir bei der Ankunft aus der Bahn heraushelfen musste. Wenn ich in Deutschland Bahn fahre, muss ich das zwei Tage vorher anmelden. In den Niederlanden reichen 30 Minuten.

WDR: Welche Einschränkungen erleben Sie noch konkret in Ihrem Alltag? Wie ist das, wenn Sie zum Beispiel als Zuschauer auf ein Konzert wollen?

Krasniqi: Das fängt schon mit der Anreise an. Die Straßenbahnstation in der Nähe meiner Wohnung in Düsseldorf ist nicht barrierefrei. Ich muss also mit dem Rollstuhl erst einmal eine Haltestelle weiter fahren, um überhaupt in die Straßenbahn einsteigen zu können. Dann muss ich hoffen, dass an den Bahnhöfen die Aufzüge funktionieren. Und dann muss ich noch hoffen, dass der Club barrierefrei ist - was bei 95 Prozent nicht der Fall ist.

Aber auch bei großen Hallen gibt es Verbesserungsbedarf. Zum Beispiel die Mitsubishi Electric Halle hier in Düsseldorf. Dort gibt es zwar eine Tribüne für die Menschen mit Beeinträchtigung. Aber leider stehen dort auch mehrere Pfeiler, und wenn man Pech hat, blockieren die einem den ganzen Abend die Sicht. Dann sitzt man da und denkt sich: Wofür habe ich jetzt ein Ticket gekauft, wenn ich sowieso kaum etwas sehe?

WDR: Was kann getan werden, um die Situation zu verbessern? Was fordern Sie?

Krasniqi: Es muss infrastrukturell viel mehr passieren, was etwa öffentliche Verkehrsmittel oder Bürgersteige angeht. Auch Bildungsstätten wie Schulen und Universitäten sind nur begrenzt barrierefrei. Und man sollte bei Neubauten verpflichtend vorschreiben, dass diese barrierefrei gestaltet werden.

WDR: Sie arbeiten als Sozialarbeiter an einer Realschule, sind aber auch schon seit Jahren als Rapper unterwegs. Wie kam es dazu?

Krasniqi: Das geschah spontan und durch Zufall. Ich war Zuschauer bei einem Battle, und ein Kumpel hat mich da reingequatscht, dass ich auf der Bühne mitmache. Das lief ganz gut, jemand hat davon ein Video gemacht, und das ist dann viral gegangen.

WDR: Im Rap wurde und wird das Wort "behindert" oft als Schimpfwort eingesetzt. Auch von Eko Fresh, mit dem Sie nun zusammenarbeiten. Wie fühlt sich das für Sie an?

Krasniqi: Ganz ehrlich: Ich habe kein Problem mit dem Wort "behindert". Es kommt aber natürlich auch immer auf die Perspektive an. Ich sehe mich selbst nicht als behindert, ich werde behindert, und zwar durch die Gesellschaft. Wenn es keine Barrieren gäbe, würde keiner über meine Behinderung reden.

WDR: Im Battle-Rap geht man den Gegenüber mit teils derben Beschimpfungen an, und das Ziel ist, ihn mit Worten zu besiegen. Da müssen Sie sich bestimmt einiges anhören.

Eminem

Vorbild Eminem: "Taktik wie im Film '8 Mile'"

Krasniqi: Das stimmt, aber im Battle-Rap ist es egal, ob man eingeschränkt ist oder welche sexuelle Orientierung man hat. Da geht es darum, dass man abliefert und auch schonungslos die Defizite des anderen aufzeigt. Das ist oft hart, da gibt es Sprüche und Beleidigungen. Aber hinterher setzt man sich dann zusammen und trinkt einen Kaffee. Das kommt mir hundertmal ehrlicher vor als der Umgang, den die Gesellschaft sonst mit Behinderten pflegt. Ich habe in der Rap-Community nie Diskriminierungen erfahren, ich wurde da sehr offen und herzlich aufgenommen.

WDR: Sie selbst haben über sich gesagt "Ich bin der rappende Stephen Hawking" und thematisieren Ihre Behinderung auch in Ihren Texten. Kann man das vergleichen mit dunkelhäutigen Rappern, die offensiv das N-Wort benutzen? Eine Art "Reclamation", um die Deutungshoheit über einen Begriff und damit ein Stück weit die Macht wiederzuerlangen?

Krasniqi: Ja, schon. Aber ich habe das auch vor allem deswegen gemacht, weil ich wusste, dass mein Gegner den Rollstuhl thematisieren wird. Da habe ich dann die Taktik aufgegriffen, die auch Eminem im Film "8 Mile" hatte: Dem Gegner die Angriffsfläche wegnehmen, indem ich mich und meine Behinderung selbst aufs Korn nehme. Wenn man beeinträchtigt ist, hat man nur zwei Optionen: Entweder man verkriecht sich, oder man lernt, damit zu leben und umzugehen. Ich habe mich für Zweiteres entschieden, und zwar auf die reflektierte und humorvolle Art.

Das Interview führte Ingo Neumayer.

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