Eine Rollstuhlfahrerin fährt auf einem barrierefreien Weg zu einer inklusiven Schule, vorbei an einer blinden Person.

Inklusion: Wie gestalten wir Schulen für alle?

Stand: 23.11.2023, 12:39 Von Calvin Bayer Gedankenspiele

Von Calvin Bayer

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Förder- oder inklusive Regelschulen? Die perfekte Lösung für Inklusion hat Deutschland noch nicht gefunden. Oft lernen Menschen mit Behinderungen abgekapselt von anderen Kindern. Aber es gibt Konzepte wie die "Schule ohne Schüler" und Ideen aus anderen Ländern, die helfen könnten.

Stell dir vor, unsere Schulen wären für alle Menschen gestaltet. Menschen mit Behinderung würden dort Förderung bekommen, Schüler:innen im Rollstuhl können von der Sporthalle bis zum Klassenzimmer alles erreichen und der Unterricht geht auf verschiedene Bedürfnisse ein. Noch ist das in Deutschland nicht überall Realität – aber das soll es werden.

Wenn es um die Schulbildung von Kindern mit Behinderung geht, können Eltern entscheiden, ob das Kind auf eine Förderschule oder eine Regelschule gehen wird. In anderen Ländern sind Förderschulen fast vollständig abgeschafft worden. Oft lernen die Kinder dort sowieso von Anfang an zusammen. Wie funktioniert Inklusion am besten?

Muss Deutschlands Bildungssystem integrativ sein?

Deutschland trat 2009 der UN-Behindertenrechtskonvention bei, die ein "integratives Bildungssystem" fordert. Seitdem wurde das Schlagwort "Inklusion" immer relevanter. Das Schulsystem in Deutschland ist aber auf Trennung nach Leistung ausgelegt. Das passiert bei Regelschulen schon nach der Grundschule, wo die Weichen für die weitere Bildung gestellt werden.

Was ist ein "sonderpädagogischer Bedarf"?

Immer mehr Kinder in Deutschland bekommen in der Schule eine Hilfestellung. In der Verwaltungssprache nennt man das „sonderpädagogische Förderung“. In der Regel beantragen das die Eltern. Den größten Schwerpunkt macht dabei der Förderschwerpunkt “Lernen” aus. Geistige, emotionale und soziale Entwicklung folgen dahinter sowie körperliche Behinderungen. Die Förderung kann es entweder auf einer Förder- oder einer Regelschule geben. Mittlerweile haben ungefähr 8 Prozent aller Kinder in Deutschland diesen Bedarf – Tendenz steigend.

Förderschulen sind umstritten

Die Zahlen an Förderschulen bedrücken: Über 70 Prozent der Jugendlichen beenden sie ohne Abschluss. Einmal im Schulsystem dort eingeordnet, ist es sehr schwierig, wieder auf eine Regelschule zu kommen. Dazu kommt oft Scham auf einer Förderschule zu sein. Und auch der Austausch mit Kindern in anderen Situationen fehlt. Dabei ist genau das der Grundgedanke von Inklusion.

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Es gibt bis zu acht Arten von Förderschulen je nach Bundesland. "So ein differenziertes Förderschulsystem gibt es fast nirgendwo auf der Welt", sagt Prof. Dr. Birgit Lütje-Klose. Sie ist Professorin für schulische Inklusion und sonderpädagogische Professionalität an der Universität Bielefeld. Förderschulen würden oft als Schonraum für Kinder verstanden, in welchem sie dann aber nicht selten systematisch unterfordert würden.

Proaktiv fördern statt nur bei Bedarf

Ein Ansatz: Weniger Kinder als förderbedürftig einzuteilen. Denn die Hemmschwelle hierfür ist in Deutschland sehr gering. Andere Länder behalten sich das für nur wenige Kinder vor, die dann spezielle Förderschulen besuchen. In Neuseeland sind das weniger als ein Prozent. Wie kann das sein? Das Schulsystem dort setzt auf die Inklusion möglichst vieler Behinderungen.

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In Neuseeland dauert die Grundschule acht Jahre, die sekundäre Schule für den Abschluss weitere fünf Jahre. Erst dann trennen sich die Wege der Kinder. Dazu gibt es eine Höchstgrenze, wie viele Kinder auf eine Lehrkraft kommen, wenig Frontalunterricht sowie pädagogische Fachkräfte, die für alle Kinder da sind. Statt meist nur im Bedarfsfall zu fördern wie Deutschland, setzt Neuseeland von Anfang an auf eine Unterstützung aller.

Doppelstruktur hindert Inklusion

Von den Kindern mit "pädagogischem Förderbedarf" gehen hierzulande immer mehr in eine Regelschule, der größere Teil aber auf Förderschulen. Im Schuljahr 2021/2022 besuchten über 320.000 Kinder mit Förderbedarf eine Förderschule, rund 255.000 eine Regelschule. Damit haben Eltern zwar Entscheidungsfreiheit. Die beiden Systeme konkurrieren aber auch miteinander.

"Das Problem ist die Doppelstruktur. Wir versuchen beides hinzukriegen. Dadurch sind viele sonderpädagogische Lehrkräfte in den Förderschulen gebunden", sagt Prof. Dr. Birgit Lütje-Klose. Dabei könnte das Know-how aus den Förderschulen auch an den Regelschulen problemlos eingesetzt werden. Denn dort hat man die Qualifikation, das Wissen und die Erfahrung, die oft an den inklusiven Regelschulen fehlen.

Die "Schule ohne Schüler" ist ein Kompetenzzentrum

Ein Konzept dabei: "Schulen ohne Schüler". Die Förderschule wird zum Kompetenzzentrum umgewandelt, die Kinder gehen an Regelschulen und die Lehrkräfte der Zentren kommen zu den Kindern an die einzelnen Schulen. Das entlastet die Schulen und die Kinder wachsen in einem inklusiven Umfeld auf.

Innerhalb Deutschlands ist Bremen ein Vorreiter für inklusive Schulen. Dort wurden schon viele Regelschulen inklusiv aufgestellt und Förderschulen damit überflüssig. Hier wurden 2023 nur 0,5 Prozent aller Kinder in Förderschulen eingeschult – ein Bruchteil des Durschnitts aller Bundesländer. Auch an anderen Orten gibt es mittlerweile Vorzeige-Schulen, doch von einem systematisch inklusiven Schulsystem sind wir noch weit entfernt.

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Italien schaffte 1977 alle Förderschulen ab

Es gibt aber Vorreiter: So hat Italien seit knapp 50 Jahren ein sehr inklusives Bildungssystem. Bereits 1977 wurden die Förderschulen auf einen Schlag abgeschafft. Nach fünf Jahren Grundschule folgen drei Jahre Mittelschule. Alle Kinder lernen bis hierhin gemeinsam. Erst dann trennen sich die Wege in Oberschule und Berufsschule. Bis zum 18. Lebensjahr gilt in Italien eine Bildungspflicht.

Für Kinder mit Behinderungen gibt es zwei Modelle in den Klassen: Die "Integrationslehrperson" unterstützt eine Klasse, während "Mitarbeiter:innen für Integration" einzelnen Kindern fest zugeteilt werden. Sie führen zu Beginn des Schuljahrs Gespräche mit diesen Kindern darüber, welche Ziele sie erreichen sollen. Am Ende des Jahres blickt man gemeinsam auf die Ziele.

"Die Sorgen machen sich meistens die Eltern", sagt Gerd Reichegger. Er ist Koordinator für den Schulverbund Pustertal im Südtirol. Zehn Jahre unterrichtete er selbst an deutschsprachigen Schulen in Südtirol und sieht, dass von inklusiven Schulen alle Kinder profitieren. "Kinder sind dadurch für das Thema sensibilisiert und verstehen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, keine Behinderung zu haben." Das inklusive Unterrichten sei in der Gesellschaft dazu auch überhaupt kein Thema.

Mehr zum Thema

UN-Behindertenrechtskonvention (institut-fuer-menschenrechte.de)

Studie zu inklusiven Schulen (bertelsmann-stiftung.de)

Zahlen zur Förderquote an deutschen Schulen (bpb.de)

Staatenbericht Deutschland Menschen mit Behinderungen (bmas.de)

Förderschwerpunkte Deutschland (bertelsmann-stiftung.de)

Inklusion in Südtirol (provinz.bz.it)

Zahlen zur Einschulung 2023 (destatis.de)

Schuldaten Neuseeland (education.govt.nz)

Kommentare zum Thema

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2 Kommentare

  • 2 Lena 30.11.2023, 07:55 Uhr

    Ich arbeite an einer Grundschule in der Nachmittagsbetreuung. Ich finde es sollte nur noch Förderschulen geben für alle Kinder. Kleinere Klassen, Größere Räume mit Spielbereich, mehr PädagogInnen aus alles Bereichen. Dort wäre tatsächlich Raum für Inklusion und Integration. An Regelschulen gehen Kinder einfach unter. Entweder das Kind lernt alles auf Anhieb oder es wird für immer einen Nachteil haben. Es sind zu viele Kinder in der Klasse und zu viele mit Förderbedarf. Das ist an einer Regelschule nicht aufzufangen. Das Schulsystem sollte komplett geändert werden und nicht nur kleine Schrauben verstellt.

  • 1 Monika Götzinger 25.11.2023, 15:56 Uhr

    Ich finde in Deutschland ist eine besondere Situation. An den Schulen fehlen Lehrkräfte. Viele Pädagogik-Studenten brechen das Studium nach den ersten Unterrichts-Erfahrungen ab, denn dort sind überwiegend Kinder mit Migrationshintergrund aus verschiedenen Ländern und Kulturen. Das ist schon eine Herausforderung, die Neuseeland so nicht hat. Ich finde geistig behinderte Kinder sowie Blinde und Gehörlose sollten auf spezielle Schulen gehen, weil sie besondere Förderung brauchen Alle anderen körperlichen Behinderungen sind wohl kein Hindernis für den Regelunterricht.